Topolektrische Schaltkreise: Neues Forschungsfeld startet durch
Überblick
Mit einer jungen experimentellen Methode lassen sich topologische Phänomene viel schneller, günstiger und flexibler untersuchen. Erst vor knapp zwei Jahren haben Forscher:innen des Exzellenzclusters ct.qmat "Topolektrische Schaltkreise" realisiert und wichtige Pionierarbeiten zu deren Verständnis geleistet. Nun ist dem Team um den Würzburger Physiker Prof. Ronny Thomale erneut ein Durchbruch gelungen: Die Beobachtung topologischer Effekte in einem Schaltkreis, der mittels dämpfender und verstärkender Elemente Energie mit seiner Umgebung austauschen kann. Die theoretische Grundlage hierfür könnte in Zukunft lichtgesteuerte Computer ermöglichen.
Standortübergreifend Neues entdecken
Würzburger und Dresdner Wissenschaftler:innen des Exzellenzclusters ct.qmat – Komplexität und Topologie in Quantenmaterialien haben in einem gemeinsamen Forschungsprojekt erstmals bestimmte topologische Zustände von Materie in einem System realisiert, das nicht in sich selbst abgeschlossen ist („nicht-hermitesch“) – d.h. dem Energie zugeführt und wieder entzogen werden kann. Das war nur möglich, indem sie für das Experiment sogenannte „topolektrische Schaltkreise“ genutzt haben. Das Akronym aus „topologisch“ und „elektrisch“ zielt darauf ab, topologische Phänomene zu erforschen, indem die Eigenschaften atomar aufgebauter Festkörper in einem elektrischen Schaltkreis nachgebaut werden. Topologische Materie, ob anhand eines Festkörpers oder in synthetischer elektrischer Form, gilt als äußerst robust und kann potentiell im Rahmen zukünftiger Quantentechnologien eingesetzt werden. Mit den neuen Forschungsergebnissen verbinden die Forscher:innen die Vision, die Erkenntnisse der topolektrischen Schaltkreise auf lichtbasierte Schaltelemente übertragen zu können. Die Ergebnisse ihrer Arbeit wurden jetzt im Journal Physical Review Letters veröffentlicht.
Verlustfreie Leitung in offenen Systemen nachgewiesen
Zentrum der aktuellen Forschungsarbeit ist die Paritäts-Zeit-Symmetrie („PT-Symmetrie“) bestimmter offener Systeme, die im Besonderen in der Optik intensiv erforscht werden. Die Cluster-Wissenschaftler:innen haben die PT-Symmetrie dafür genutzt, das Wechselspiel von elektrischen Energieverlusten einerseits und elektrischer Verstärkung andererseits so zu kompensieren, dass sich der eigentlich energie-offene Aufbau ähnlich wie ein abgeschlossenes System („hermitesch“) verhält. Nur mit diesem Kniff haben sie es schließlich geschafft, topologische Phänomene – konkret topologische Defektzustände – auch in einem energieoffenen System zu realisieren („nicht-hermitesch“).
Paradigmenwechsel durch synthetische Quantenmaterie
„Mit diesem Forschungsprojekt ist uns ein Brückenschlag zu den Dresdner Kollegen gelungen. Mein Ziel war immer schon, die Forschungsbemühungen in der Optik an beiden Clusterstandorten zusammenzuführen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist nun getan, was mich sehr freut. Für mich sind die topolektrischen Schaltkreise‘ eine Art Simulator für Ideen, aus denen sich in Zukunft außergewöhnliche neue Anwendungen in der Optik ergeben können. Die Tatsache, dass ein solcher experimenteller Aufbau gerade mal 500 Euro kostet und dabei präziser messbar und einstellbar ist als viele andere topologische Plattformen kommt einem Paradigmenwechsel gleich“, kommentiert der Würzburger Wissenschaftler und Leiter der Studie, Prof. Thomale.
Eins, zwei, Anwendung
Nachdem die Quantenphysiker:innen um Prof. Thomale die PT-Symmetrie in einem eindimensionalen topolektrischen Aufbau aus 30 Reihenschaltungen realisiert haben, wollen sie einen Schritt weiter in Richtung Anwendung gehen. Hierfür werden die Forscher:innen zweidimensionale PT-symmetrische Stromkreise mit etwa 1.000 Elementen entwickeln und untersuchen. Irgendwann könnten damit lichtgesteuerte Computer ermöglicht werden. Diese wären wesentlich schneller und energieeffizienter als heutige elektronengesteuerte Modelle.
Beteiligte
An der Publikation sind neben Clustermitgliedern der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) und dem Leibnitz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung Dresden (IFW) auch die Wissenschaftler:innen um Professor Alexander Szameit von der Universität Rostock beteiligt. Mit der Arbeitsgruppe von Szameit kooperiert das Exzellenzcluster ct.qmat auf dem Gebiet der topologischen Photonik.
Daten & Fakten
31.05.2021
Publikation
Stegmaier et al., Topological defect engineering and PT-symmetry in non-Hermitian electrical circuits, Physical Review Letters 126, 215302 (2021). https://link.aps.org/doi/10.1103/PhysRevLett.126.215302
Kontakt
Prof. Dr. Ronny Thomale, Lehrstuhl für Theoretische Physik I, Universität Würzburg, T +49 931 31-86225, rthomale@physik.uni-wuerzburg.de
Katja Lesser, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit Exzellenzcluster ct.qmat, Tel: +49 351 463 33496,
katja.lesser@tu-dresden.de
Bild
Das Foto zeigt den „topolektrischen Schaltkreis“, mit dem die hier untersuchten topologischen Zustände realisiert wurden.
© Lukas Ziegler
Exzellenzcluster ct.qmat
Das Exzellenzcluster ct.qmat – Komplexität und Topologie in Quantenmaterialien wird seit 2019 gemeinsam von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und der Technischen Universität (TU) Dresden getragen. Mehr als 250 Wissenschaftler:innen aus 33 Ländern und vier Kontinenten erforschen topologische Quantenmaterialien, die unter extremen Bedingungen wie ultratiefen Temperaturen, hohem Druck oder starken Magnetfeldern überraschende Phänomene offenbaren. Gelingt es, diese besonderen Eigenschaften unter Alltagsbedingungen nutzbar zu machen, wird das die Basis für revolutionäre Quantenchips und neuartige technische Anwendungen sein. Das Exzellenzcluster wird im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert.